circumbalticum 2022, Etappe 1: transgermania – transbaltica – wir kommen an

Es regnet. Den ganzen Tag. Ich habe Zeit, den ersten Abschnitt unserer Reise zu dokumentieren. Vor drei Tagen, am Donnerstag, 16. Juni, sind wir in Fürth aufgebrochen (tatsächlich? Kommt mir gerade vor, als wären wir schon Wochen unterwegs), d.h. eigentlich in Langenzenn, wo unser Camper wohnt, wenn wir nicht mit ihm unterwegs sind. Der erste Tag war eine endlose Autobahntortur. 10 Stunden von Langenzenn bis in den Norden von Hamburg zu meinem Bruder Tilo. Baustellen und schleppender Verkehr. Und so`n Citroen Jumper ist definitiv kein Rolls Royce. Jenseits von 100 km/h wird die Lautstärke innen drin ziemlich unerträglich.

Der Garten meines Bruders

Als wir schließlich um 19.00 Uhr ankommen, hat sich mein Bruder überraschend ins Krankenhaus verdrückt: Die Bauchschmerzen, die ihn seit Tagen plagen, haben sich tatsächlich als Blinddarmentzündung entpuppt. Er wird noch am Abend operiert – glücklicherweise geht alles gut, wir haben uns schon ziemliche Sorgen gemacht. Wir werden von meinem Neffen Ole empfangen, bewundern den traumhaft schönen Garten (mein Bruder und seine Familie wohnen direkt am Duvenstädter Brook an der Grenze zu Schleswig Holstein) und lassen uns noch ein paar Pizzen kommen. Um 10:00 kriechen wir todmüde in unseren Camper: Die erste Nacht in unserem mobilen Heim. Es geht wirklich los…

Freitag besuchen wir noch meinen Bruder im Krankenhaus (nachdem wir noch in einer Apotheke einen Schnelltest gemacht haben – man merkt es im Alltag zwar kaum noch, aber Covid ist noch nicht vorbei). Er ist noch etwas mitgenommen, aber die OP ist gut verlaufen und er kann mit etwas Glück vielleicht schon am nächsten Tag wieder nach Hause. Ich bin froh, dass wir noch bei ihm vorbeigeschaut haben. Vom Krankenhaus sind`s noch 45 Minuten bis Lübeck. Die Fähre fährt abends um 22:00 Uhr ab Travemünde, wir haben reichlich Zeit und Lübeck ist schließlich Weltkulturerbe und Marzipanhauptstadt. Und eine Stadt mit etwas ungewöhnlichen Fußgängerbrücken. Wir essen in der Schiffergesellschaft zu Mittag – DAS Traditionslokal von Lübeck. Das Interieur sieht noch genauso beeindruckend aus, wie ich es von einem Besuch vor etlichen Jahren in Erinnerung hatte, aber das Essen ist keine Offenbarung. Gaby ist ziemlich enttäuscht von ihrer Fischsuppe. Noch ein Bummel durch Lübeck (die haben einen Tintoretto in einer Kirche hängen – beeindruckend), dann fahren wir weiter nach Travemünde – wir wollen noch mal ans Meer bevor es losgeht. Das Wetter hat sich in der Zwischenzeit eingetrübt. Es herrscht ein merkwürdiges, fieses Zwielicht. Alles ist grellgrau und irgendwie unangenehm. Wir laufen ein wenig die Strandpromenade von Travemünde auf und ab bis es uns reicht. Dann fahren wir zum Skandinavienkai und stellen uns in die Warteschlange für die Fähre. Irgendwann ist Check-in und wir dürfen an Bord. 

Die Fähre ist eine ziemliche Enttäuschung. Wir sind die großen Skandinavien-Fähren gewohnt. Mit tollem Abendbuffet, Duty-Free-Shop, Kino, Shopping-Mall und richtig viel Luxus. Wie kleine Kreuzfahrtschiffe. Unsere Fähre hat nur einen winzigen Kiosk mit Schnaps, Schokolade und ganz viel Parfum und der macht auch nur zwei Stunden am Tag auf. Wir haben schon in der Warteschlange im Camper gegessen, auf der Fähre schauen wir noch ein wenig aufs Wasser und verkriechen uns dann recht schnell in unsere Kabine – ist ja auch schon 23:00 Uhr. Am nächsten Morgen gibt`s ein richtig schlechtes Frühstück. Fleischbällchen, Porridge, Bohnen, Würstchen, Käsescheiben und Kochschinken, keine Marmelade, kein Honig – dafür formgepresstes Fertig-Ei. Wir sind schwer enttäuscht. Das Schiff fährt für die Stena-Line. Wir hatten schwedisches Buffet mit Lachs, Hering, Shrimps, frischen Brötchen und anderen tollen Delikatessen erwartet. Ein letztes Mal schlemmen vor den kulinarischen Entbehrungen des Nordens. Den Tag verbummeln wir mit Lesen, auf Deck abhängen und Mittagsschläfchen in der Kajüte. Auch eine neue Erfahrung für uns: Bisher fuhren die Fähren meist nachmittags los. An Bord einfinden, lecker Buffet vernichten, noch ein wenig schauen und dann schlafen. Am nächsten Morgen nochmal lecker Buffet und dann von Bord. Alles ohne Stress, aber gut durchgetaktet. Jetzt sind wir den ganzen Tag auf der Fähre und haben nicht zu tun als auf die graue Ostsee zu starren und die Tauben zu beobachten. Tatsächlich sehen wir keine anderen Vögel außer drei Tauben, die ständig um die Fähre kreisen, bis wir in Liepāja anlegen. Das heißt, es gibt auch noch Abendessen. Nicht so furchtbar wie das Frühstück, aber auch nicht weiter erwähnenswert.

In Liepāja dauert es ziemlich, bis wir von der Fähre kommen. Dann sind wir plötzlich in einer anderen Welt: Plattenbauten und winzige Häuschen, Pflasterstraßen, viel Grün. So ungefähr stelle ich mir das ländliche Deutschland vor hundert Jahren vor – oder die DDR in den 1970ern mit all den Plattenbauten. Auf dem Weg zum Campingplatz – wir haben einen über Google-Maps ausgewählt und während der Wartezeit an der Fähre gebucht – schickt uns das Navi über eine Schotterpiste, die ziemlich perfide Querrillen aufweist. Schneller als als 30 km/h ist quasi unmöglich, auch wenn uns ein paar Einheimische entgegenkommen, die sicher schneller als 50 fahren und ziemliche Staubwolken verursachen. In unserem Camper fangen bei über 20 km/h Tassen und Teller einen wilden Stepptanz an und der ganze Aufbau stöhnt, ächzt und scheppert, dass uns ganz anders wird. Statt der angekündigten 25 Minuten brauchen wir fast eine Stunde. Der Campingplatzwart wartet schon auf uns – ist ja auch sein Job. Erst nimmt uns der Junior in Empfang, dann übernimmt der Vater. Er hat jahrelang in Deutschland gearbeitet und spricht hervorragend Deutsch (Junior spricht gutes Englisch). Beide sind unglaublich nett und scheinen sich wirklich über uns zu freuen. Dieses Jahr läuft nicht gut: Der Ukraine-Krieg scheint viele deutsche Touristen abzuschrecken (wir haben auch überlegt, ob wir wirklich ins Baltikum reisen wollen, das ja schließlich auf Putins „Heim ins Reich-Liste“ ganz oben steht) und Diesel ist hier mittlerweile genauso teuer wie in Deutschland.

Der Campingplatz Rugumi ist wunderschön angelegt: ein großer Garten direkt an den Dünen zum Ostseestrand. Die Sanitäranlagen sind einfach, aber sauber (Plumpsklos und einfache Waschbecken unter freiem Himmel) und im Zweifelsfall haben wir ja alles im Camper. Wir tun uns schwer, den idealen Platz für unseren Camper auszuwählen. Schließlich stellen wir uns auf die große Camper-Wiese. Die Sonne geht gerade unter (es ist Ortszeit 22:30 – Lettland ist uns eine Stunde voraus) und wir gehen noch mal an den Strand, machen ein paar Fotos und kommen langsam an.

Sonntag, unser erster Tag in Lettland. Es ist Regen gemeldet. Nach dem Frühstück machen wir uns fertig und marschieren den Strand entlang nach Norden in Richtung Steilküste (die ist allerdings außer Reichweite). Nach einer Viertelstunde fängt es an zu regnen. Gaby hat eh schon nasse Füße – sie ist in eine Sackgasse geraten und musste durch einen Wassergraben vor den Wellen fliehen. Wir gehen tapfer weiter, aber nach einer halben Stunde reicht es uns dann und wir kehren um. Zurück am Camper sind wir klitschnass trotz High-Tech-Regenklamotten. Es regnet den ganzen Tag. Wir essen, schlafen und faulenzen und geben unseren Seelen Zeit nachzukommen. Die brauchen immer etwas, speziell auf langen Autobahnstrecken hängen wir die immer ab. In Fürth sind heute 36°C. Da kommen mir Regen und 13°C wie das Paradies vor.

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